Die Geschichte von Bertel Kugelmann-Borowsky

"Meine Geschichte" - Bertel Kugelmann-Borowsky


Bertel Kugelmann-Borowsky (⁎ 1924 in Fritzlar † 2020 in San Franzisco) – ehemalige jüdische Mitbewohnerin – Überlebende der Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz

Die nachfolgende Geschichte ist von Bertel Kugelmann-Borowsky niedergeschrieben worden. Das Original war in englisch verfasst und wurde von Clemens Lohmann, dem damaligen Stadtarchivar, 1996 übersetzt und im Fritzlarer Wochenspiegel Nr. 45/96 veröffentlicht.

Im  Museum Hochzeitshaus gibt eine Hörstation ein Interview wieder, das die Shoah-Foundation mit ihr geführt hat. Diese Organisation, mit vollständigem Titel „Survivors of the Shoah Visual History Foundation” genannt, war auf Wunsch von Holocaust-Überlebenden während der Dreharbeiten zu Steven Spielergs Film „Schindlers Liste“ vom Regisseur gegründet worden.

Meine Geschichte
von Bertel Kugelmann-Borowsky - gewidmet meinen Söhnen Marc und Claude

Vor ihrem Elternhaus, Fraumünsterstraße 19

Die Geschichte, die ich heute zu erzählen habe, ist keine neue. Vieles ist gesagt, geschrieben und geschildert worden. Es betrifft die Verfolgung und Zerstörung eines Volkes. Aber dies ist meine persönliche Erfahrung und das Schicksal meiner eigenen Familie. Ich kehrte neulich an den Platz meiner Geburt zurück, einer kleinen Stadt in Deutschland. Es ist eine schöne, historische, alte Stadt in einer ruhigen Umgebung. Und es war schwierig für mich zu realisieren, dass hier viel Böses begangen wurde.

Die Stadt thront hoch oben auf einem Hügel und ihre liebliche Kathedrale beherrscht die Landschaft. Die Häuser, bekrönt durch rote Ziegeldächer, drängen sich um sie herum. Saftige, grüne dahingestreckte Hügel umgeben sie.

Ich traf mich mit dem Stadtarchivar, der zusammen mit seiner Frau kürzlich eine Broschüre geschrieben und publiziert hatte, die das Schicksal der jüdischen Gemeinde dieser Stadt dokumentiert.  Er führte mich durch die vertrauten Straßen. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als wir uns meinem früheren Zuhause näherten. Die Fassade hat sich verändert durch verschiedene neue Bewohner, wodurch der Schmerz verkleinert wurde, den ich erwartet hatte beim Anblick der Stelle, an der ich für eine kurze Zeit meines Lebens glücklich war.




v.l.n.r.: Die Kinder Irene, Max, Bertel und Brunhilde

Ich kenne meine Großeltern nicht, die gestorben waren, bevor ich geboren wurde. Sie waren Besitzer des Hauses und hatten dort ihre Kinder großgezogen. Mein Vater erbte das Haus und ich und meine drei Geschwister wurden hier geboren. Ein wunderschöner Garten war hinter dem Haus mit wunderschönen Obstbäumen, Apfel-, Pflaumen- und Birnenbäumen. Büsche, die eine Überfülle an Johannisbeeren, Stachelbeeren und Erdbeeren erbrachten, waren an den Ecken entlang gepflanzt, und viele verschiedene Früchte waren in der Mitte. Da war eine kleine Ecke, in der Hühner und ein Hahn umherstreiften, und ein großer Walnussbaum überschattete alles. Ich liebte diesen Baum, den ich von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte, und begierig wartete ich auf den Herbst, wenn er die sehr delikaten süßen Walnüsse lieferte. Über die Straße war das Haus und der Laden von Löwensteins. Drei Generationen der Familie Löwenstein lebten dort. Im oberen Geschoss wohnte das junge Paar mit zwei Söhnen, Ferdi und Gerhard. Ferdi war ein Jahr jünger als ich, und wir waren praktisch untrennbare Spielkameraden. Es lebten ungefähr 50 jüdische Familien in der Stadt. Die Löwensteins waren Juden wie wir und die Volkes Katholiken. Aber das war unwesentlich während meiner frühen Kindheit.

Bertel Kugelmann am Tag ihrer Einschulung

Aber bald nachdem Hitler 1933 an die Macht gekommen war, als ich 8 Jahre alt war, begannen sich die Dinge langsam zu verändern.

Einige nicht-jüdische Kinder aus der Nachbarschaft beschimpften uns. Einige sagten: „Du bist ein Jude, und du tötest Jesus, ich kann mit dir nicht mehr weiterspielen.“ Ich ging weinend nach Hause und fragte meine Eltern über die Wahrheit dieser Anklage. Meine Eltern versuchten mich immer wieder zu beruhigen, dass wir keinen Anteil hatten am Tod von Jesus.

Als ein Ergebnis habe ich den Kontakt zu den nicht-jüdischen Spielkameraden verringert und mich näher an Ferdi Löwenstein angeschlossen. Als die Verfolgungen der Juden sich zu steigern begannen, hörte man von Juden, die geschlagen worden waren in den Nachbarstädten und Dörfern, von Grabsteinen, die umgeworfen worden waren und von Fenstern von Wohnhäusern, die eingeworfen worden waren. Als ein Ergebnis dieser bedrohlichen Vorkommen verließen jüdische Familien, aber auch einzelstehende Erwachsene ihre Häuser und Stätten der Geburt und emigrierten, wo immer Zuflucht geboten wurde. Die meisten wählten die Vereinigten Staaten und Palästina, andere Südafrika, Südamerika und sogar Shanghai/China. Mein Vater war ein Getreidekaufmann, hochrespektiert in der Gemeinschaft und bei den Familien, mit denen er in den umliegenden Dörfern Handel trieb. Jeder kannte Josef Kugelmann, suchte ihn auf, wenn er Hilfe brauchte, Geld oder auf andere Art und Weise. Einmal verlor er Tausende, als er für einen einzelnen Farmer bürgte. Er hatte in der deutschen Armee gedient, alle vier Jahre des Ersten Weltkrieges an den Frontlinien in Frankreich. Sein Vater hatte gleichfalls während des französisch-preußischen Krieges gedient. Beide fühlten sich als Deutsche, wie all die anderen Veteranen. Sie waren Kameraden in der Armee und Mitglieder in ihren Vereinen und zivilen Organisationen. Als meine Mutter meinen Vater drängte, das Land zu verlassen, wollte er nicht auf sie hören. „Reg dich nicht auf,“ sagte er, „Du weißt, nichts wird uns passieren, und in einiger Zeit wird Hitler wieder weg sein.“ Er konnte und wollte sicherlich nicht glauben, welche Tragödien sich entfalten würden.

Mein Bruder Max, zwölf Jahre älter als ich, war ein eifriger Fußballspieler und gehörte zum örtlichen Fußballteam. Eines Tages, ich erinnere mich, als wäre es heute, kam er nach einem Fußballspiel nach Hause in mein Zimmer. Sein Gesicht war schwarz und blau, seine Lippen geschwollen. Er offenbarte mir, dass er schwer geschlagen worden sei durch einige Außenstehende, die nicht wollten, dass ein jüdischer Junge mitspielte.

Nach dieser Episode stimmte mein Vater, der zwei Schwestern in den Vereinigten Staaten hatte, zu, meinen Bruder zu ihnen nach Amerika zu senden.  Meine ältere Schwester Irene wurde ebenso zu ihnen gesandt, weil sie sich bei dem wachsenden Antisemitismus mehr und mehr unbehaglich fühlte.

Als Gewalt und Boykotte wuchsen, gingen mehr und mehr Familien weg. Die Löwensteins waren unter ihnen. Mein bester Freund war nun gegangen, und ich begann mich isoliert und einsam zu fühlen. Im folgenden Jahr beendete ich die Volksschule im Alter von dreizehn Jahren. Eine höhere Ausbildung, die nach einem Schulwechsel im Alter von neun Jahren hätte begonnen werden müssen, war mir verweigert worden.  Die Quote von einem jüdischen Kind unter hundert nichtjüdischen Kindern hatte erfüllt werden müssen. Was sollte ich tun im Alter von dreizehn Jahren? Ich wollte nicht länger in meiner Heimatstadt bleiben. Eine Freundin schlug mir vor, mit ihr nach Marburg zu gehen, einer lieblichen Universitätsstadt mit einer noch immer großen jüdischen Gemeinde und jungen Leuten und ebenso Kindern in meinem Alter. Sie kannte eine jüdische Familie, deren zwei Töchter nach Argentinien und Holland emigriert waren und die begierig waren, dass ich mit ihnen zusammen als ihre „Haustochter“ leben würde.

Meine Eltern stimmten nur zögernd zu, und wir trafen uns mit der Familie Haas, die Bankiers in Marburg waren und fanden sie sehr warm und einfühlsam. Meine Eltern fühlten sich beruhigt, und im April 1938 ging ich nach Marburg. Ich fand sehr schnell Gefallen an der Familie und der neuen Stadt und hatte viele Freunde.

Am 9. November 1938 kam meine Freundin in großer Aufregung an unsere Tür. Sie wollte wissen, ob meine Eltern Kontakt mit mir aufgenommen hätten.  „Warum sollten sie?“ fragte ich. Sie erzählte mir, dass die Synagoge in meiner Heimatstadt gebrannt hatte und alle jüdischen Männer arrestiert worden waren. Bald begann derselbe Schrecken in Marburg. Die schöne Synagoge ging in Flammen auf und alle jüdischen Männer wurden gestellt.

In der Mitte der Nacht läutete es Sturm an unserer Türklingel. Ich ging zur Tür und hinein stürmten zwei große Männer in SS-Uniformen und verlangten, Herrn Haas zu sehen. Ich führte sie in das Schlafzimmer, wo sie Herrn Haas befahlen, sich sofort anzuziehen und ihnen zu folgen.

Frau Haas war seit einigen Tagen schwer an einer Nierenentzündung erkrankt und hatte hohes Fieber. Sie wurde hysterisch, als ihr Ehemann weggeholt wurde, und ich versuchte, sie zu beruhigen. Ich war vierzehn Jahre alt und wurde über Nacht dreißig. Ich war in Schrecken versetzt, aber ich konnte meine Furcht nicht zeigen: ich hatte für meine Patientin zu sorgen. Ich glaube, mein Interesse in und die Liebe für Krankenpflege und medizinische Wissenschaften wurde damals in mir geweckt. Am nächsten Tag erfuhren wir von der infamen Kristallnacht, während der die meisten Synagogen in ganz Deutschland zerstört worden waren, Fensterscheiben eingeworfen, Läden geplündert und die Männer in Konzentrationslager transportiert worden waren. Der emotionale Stress für mich war ungeheuer. Ich folgte den Anweisungen des Doktors über die Behandlung, die Frau Haas zu erhalten hatte. Ich hatte ihr die neu entdeckte Sulfatmedizin zu verabreichen. Ich kontrollierte ihre Temperatur und ihren Puls, fütterte und badete sie; und inzwischen benachrichtigte ich ihre Töchter in Argentinien und Holland, sofort die Einreiseformalitäten für ihre Eltern in die Wege zu leiten, so dass ihr Vater freikommen könnte. Herr Haas kehrte nach zwei Wochen zurück und berichtete nichts über seine schwere Prüfung, trieb aber die Pläne zur Emigration nach Argentinien voran. Nach dieser dramatischen Veränderung zog auch mein Vater zunächst einmal ein Verlassen des Landes in Betracht, obwohl niemand unser Haus während der Kristallnacht berührt hatte; aber er war für eine Woche in das Konzentrationslager Buchenwald geschafft worden. Wiederum wie Herr Haas, bewahrte er Schweigen darüber. Meine Schwester und mein Bruder, nun amerikanische Bürger, starteten mit Vorbereitungen für meine Eltern, um sie über die Elternquote in die Vereinigten Staaten zu bekommen. Unglücklicherweise konnte ich nicht ein solches Vorzugsvisa erhalten, weil es nur für Eltern reserviert war. Meine Eltern, die nicht ohne mich gehen wollten, lehnten abzugehen. Da die Haas-Familie bald das Land verlassen würde, hatte ich einen anderen Platz zu finden, wo ich hingehen konnte.

Meine Schwester Hilde, acht Jahre älter als ich, hatte gerade geheiratet und lebte in Hamburg. Meines Mutters Bruder, der der Direktor eines jüdischen Waisenhauses in Hamburg war, lebte dort ebenfalls mit seiner Familie. Meine Schwester schlug vor, dass ich ebenfalls nach Hamburg kommen könnte und dort entweder mit ihr oder meinem Onkel lebenkönnte. Ich entschloss mich für das letztere Angebot, da ich auch meinte, dort mit vielen jungen Menschen zusammen zu sein. Die Jungen des Waisenhauses waren nicht alle Waisenkinder. Viele waren Studenten von anderen Orten und waren Internatsschüler, während sie die Hochschule besuchten. Ich kam nach Hamburg in 1939.

Einige Monate später fielen die ersten britischen Bomben auf Hamburg. Wir verbrachten jede Nacht in Luftschutzkellern, aber waren nicht verängstigt, während die Bomben rings um uns explodierten. Zu sterben in einem Luftschutzkeller erschien erstrebenswerter als in einem Konzentrationslager zu sterben.

Als der Krieg voranschritt, wurde die Verfolgung der Juden immer intensiver, und mehr und mehr persönliche Freiheiten wurden aufgehoben. Es wurde ein Erlass herausgegeben, der allen Juden befahl, einen gelben Stern mit der Aufschrift Jude zu tragen, wie ein Wappenschild auf der äußeren Kleidung.

Alle männlichen Juden hatten den Namen Israel zu ihrem Geburtsnamen hinzuzufügen und alle weiblichen den Namen Sarah. Ein Personalausweis mit diesen Namen wurde ausgegeben. Juden hatten alle Wertsachen in ihrem Besitz abzugeben: Gold, Silber, Edelsteine usw. Auf all dies folgten die ersten Transporte, die Umsiedlung genannt wurden, in Wirklichkeit waren es Transporte in Viehwagen zu verschiedenen Konzentrationslagern und für die meisten in den sicheren Tod. Ich schrieb wöchentlich Briefe zu meinen Eltern nach Hause; plötzlich kamen all meine Briefe mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ zurück. Ich begriff sofort, dass sie in ein Konzentrationslager geschafft worden waren. Ich rief meine Schwester an, und sie fuhr sofort mit dem Zug los, eine Acht-Stunden-Reise, zu unserem Haus, um herauszufinden, was geschehen war und etwas über ihren Verbleib. Es wurde ihr gesagt, dass meine Eltern getrennt worden waren und mein Vater in Dachau und meine Mutter in Ravensbrück waren, beides allseits bekannte Konzentrationslager. Sie fand unser Haus ausgeplündert vor und eine Wohlfahrtsfamilie darin lebend. Meine Schwester kehrte verstört zurück. Wir sahen unsere Eltern nie wieder.

Mein Onkel, der der Direktor des Waisenhauses war, wie ich es vorhin erwähnte, wurde krank. Ein Schatten auf seiner Niere wurde als Tumor diagnostiziert. Die chirurgische Operation wurde vorbereitet, und er starb auf dem Tisch des Operationsraumes. Er musste die Transporte der Kinder des Waisenhauses nach Ausschwitz nicht mehr bezeugen. Wir betrauerten seinen Tod, aber wir waren dankbar, dass ihm letztendlich diese Seelenqual erspart geblieben war. Nach seinem Tod fragte mich meine Tante, ob ich bei ihr leben wollte. Ihr ältester Sohn, mein Cousin Dr. Max Plaut, war Rechtsanwalt und der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hamburg und von ganz Nordwestdeutschland. Er hatte der Gestapo täglich den Zustand der Juden und von den verschiedenen Transporten zu berichten.

Die Transporte gingen nun wöchentlich ab. Meine Schwester und mein Schwager und seine Eltern waren in einem der nächsten nach Litzmannstadt in Polen. Ich sah sie nie wieder.

Im Juni 1943 war es an mir. Ich erhielt Aufforderung, an einem bestimmten Versammlungsplatz zu erscheinen, von welchem wir in Viehwaggons gepfercht wurden. Diejenigen von uns, die sich kannten, drängten sich, um Beistand zu haben, zueinander. Es war uns erlaubt worden, einen Koffer mit einigen wenigen Habseligkeiten mitzunehmen. Für zwei Tage und zwei Nächte bewegte sich der Zug langsam voran. Wohin würden wir gebracht werden? Was war unsere Bestimmung? Als der Zug stoppte, hatten wir Theresienstadt erreicht. Aus Gerüchten wussten wir, dass dies ein Ghetto war und sozusagen ein bevorzugter Platz, im Gegensatz zu anderen Konzentrationslagern.  Freunde aus Hamburg, die in früheren Transporten geschickt worden waren und die täglichen Transporte bemerkten, kamen zu den Zügen, um nach Freunden oder Bekannten zu suchen. Eine entfernte Cousine von mir, mit einigen Freunden, erkannte mich und nahm mich mit zu ihrer Behausung, ein einige Fuß großer Raum im Dachgeschoss einer Militärbaracke aus der Zeit von Maria Theresia, nach der die Stadt benannt war. Dort lebte eine sechsköpfige Familie, zwei junge Ehepaare, ihre ältlichen Eltern und meine Cousine Ilse. Sie machten sofort Platz für mich und erzählten mir über ihr Leben hier. Das Lager war als ein Modell-Lager vorgesehen, um es, wenn notwendig, den Mitarbeitern des Internationalen Roten Kreuzes zu zeigen, so dass diese der Welt berichten konnten, wie menschlich die Juden behandelt wurden. Das Lager hatte eine Scheinselbstverwaltung. Die Menschen wurden entsprechend ihrer Berufe, ihrer künstlerischen und handwerklichen Geschicklichkeit im Lager nutzbar gemacht. Andere hatten unter Bewachung der SS außerhalb in Munitionsfabriken zu arbeiten.

Als ich zur Arbeit registriert wurde, wurde ich als erstes dazu bestimmt, die Latrinen zu reinigen. Das war normal für alle Neuankömmlinge. Später wurde mir erlaubt, im Kindergarten zu arbeiten. Jeden Tag stellte sich jeder an für eine schmale Ration Brot und ein gekochtes Essen. Das Essen war nicht schlecht, aber die Portionen waren sehr klein. Das Ghetto war überbelegt, Typhus und Fleckfieber grassierten, Flöhe quälten uns. Innerhalb kurzer Zeit wurde ich krank, zuerst mit Scharlachfieber, dann Typhus, gefolgt von Hirnhautentzündung. Ich wurde zum Hospital geschickt, aber dort bekam ich keine Behandlung. Nach ein paar Wochen dort wurde ich seltsamerweise wieder gesund.

Erneut verließen Transporte Theresienstadt. Neue Ängste kamen hoch. Würde ich unter denjenigen sein, die zu gehen hatten?   An einem der furchtbaren Tage kam meine Aufforderung. Erneut wurden wir an einem bestimmten Punkt zusammengetrieben und in Viehwaggons verladen und hatten keine Vorstellung über unsere Bestimmung. Tag und Nacht ratterte der Zug dahin und viele Stationsnamen passierten unsere Augen und mir wurde klar, dass wir weiter und weiter nach Osten fuhren. Es wurde uns weder zu essen noch Wasser gegeben während der Fahrt. Es gab keine sanitären Möglichkeiten. Der Gestank von Urin und Exkrementen war unerträglich.

Als der Zug stoppte und das Zeichen von Auschwitz erschien, schien mein Herz stillzustehen. Obwohl wir nicht wussten, was an diesem Platz Ausschwitz geschah - durch Flüstern und Gerüchte hatten wir etwas gehört – war uns klar, dass etwas Schreckliches uns erwartete. Wir wurden zu Gruppen zusammengetrieben. SS-Männer und -Frauen, bewaffnet mit Gewehren und Peitschen und begleitet von Hunden, waren überall. Im Hintergrund kamen riesige Schornsteine in das Blickfeld, die Flammen und Rauch ausspuckten. Überall, wo unser Auge hinguckte, sahen wir Gefangene in blau-weiß gestreiften Uniformen, deren Gesichter grau und ausdruckslos waren. Unsere Gruppe wurde plötzlich geteilt, einige zur linken, andere zur rechten Seite. Mütter wurden von ihren Kindern getrennt und Ehemänner von ihren Frauen. Wir wurden unserer Kleider beraubt und mit denselben blau-weißen Uniformen ausgestattet. Unsere Köpfe wurden geschoren und unsere Habseligkeiten weggenommen. In Minuten waren wir unserer Identität beraubt und waren nur noch Nummern. Wir wurden Baracken zugewiesen und bestimmten Schlafkojen, von denen wir zweimal am Tag zum Appell aufgefordert wurden. Für die Appelle standen wir stundenlang in der kalten unwirtlichen Landschaft.

Es gab keine Möglichkeiten für Hygiene. Latrinen wurden anstelle von Toiletten benutzt. Wir konnten sie nur dann benutzen, wenn wir unter SS Aufsicht waren. Wir wuschen uns mit unserer täglichen Kaffeeration. Unser Essen bestand aus einer Wassersuppe und trockenem Brot, das letztere eine sehr schmale Ration. Unsere Betten waren Kojen mit nur einer dünnen Bettdecke. Es war Winter und wir wunderten uns, wie lange wir überleben könnten.

Meine Kojenkameradin war Margot Weil. Sie kam aus Kehl am Rhein, war von ihren Eltern getrennt worden und war eine ausgebildete Krankenschwester. Eine enge Freundschaft entwickelte sich zwischen uns. Wir teilten jedes Stückchen Brot und hofften, dass wir zusammenbleiben konnten.

Die anderen teilten uns mit, keinesfalls die zweimal täglich stattfindenden Musterungen zu versäumen, gerade auch wenn man krank war. Die, die krank waren, verschwanden in den Gaskammern. Es wurde uns ebenfalls gesagt, glücklich zu sein und wenn es irgendwie möglich sei, uns zur Arbeit einteilen zu lassen. Wenn dies nicht geschehen sollte, würden die Öfen unsere Bestimmung sein. Wir lebten in der täglichen Angst vor dieser Ungewissheit.

Eines Tages wurden Margot und ich für irgendetwas aussortiert. Wir dachten, das ist das Ende. Aber es wurde uns gesagt, dass wir zu einem Arbeitslager nach Österreich überstellt werden würden. Wir wussten nicht, dass die russische Armee in Polen voranmarschierte und Auschwitz geräumt werden sollte.

Erneut blickten wir auf die gefürchteten Viehwaggons. Konnten wir glauben, was man uns erzählt hatte? Welche neuen Schrecken würden sich enthüllen? Einige hundert von uns wurden nach Lensing/Oberdonau in Österreich transportiert, einem Nebenlager des verrufenen Konzentrationslager Nordhausen. Wir kamen von solch einem trostlosen Platz und nun sahen wir die Sonne scheinen über den schneebedeckten Alpen Österreichs und ein Hoffnungsschimmer wuchs, dass es vielleicht doch die Möglichkeit unseres Überlebens gab. In dem Lager waren ungefähr 500 ungarische jüdische Frauen und Mädchen. Viele erkrankten an Tuberkulose und Unterleibstyphus. Ein kleines Krankenrevier war eingerichtet und eine jüdische Frauenärztin aus Prag war die Leiterin. Als sie mitbekam, dass Margot eine ausgebildete Krankenschwester war, bat sie darum, sie der Krankenstation zuzuteilen. Ich wurde zusammen mit anderen einer Munitionsfabrik, Meilen entfernt vom Lager, zugewiesen.

Früh am Morgen hatten wir dort hinzugehen, durch den hohen Schnee in Winterkälte, nur bekleidet mit unseren Gefangenenuniformen und einem langen Mantel. Holländisch aussehende Holzschuhe waren unsere Schuhe, an denen der Schnee festklebte und das Gehen zur Qual machte. Angeführt wurden wir jeweils von einer SS-Wache mit einem Gewehr und einem Hund und einer, die am Ende unserer langen dünnen Reihe folgte.

Unsere schmutzige Gruppe, in dunklen, langen Mänteln, erinnerte mich an die Pilgergruppe in der Oper Tannhäuser und die Gefangenen in Fidelio. Die Aufgabe in der Munitionsfabrik bestand darin, eine Kriegsmaschine zu kontrollieren, wie sie kilometerlange, schwefelgetränkte Baumwollstreifen ausspuckte. Die Maschinen fielen häufig aus. Jedes Mal, wenn das passierte, hatte ich das Band mit einem langen scharfen Messer durchzuschneiden und die Maschine wieder in Gang zu setzen.

Ich stand in dieser höhlenartigen, geräuscherfüllten Halle. Keine andere Seele war zu sehen, meist hypnotisiert durch die Monotonie der Maschinenwirbel und durch die Schwefeldämpfe. Am Ende des Tages humpelten wir zurück zum Lager. Unsere Kleider waren nass durch den langen Weg in Schnee und Regen. Dieselben Kleider mussten am nächsten Tag getragen werden, und der Gedanke an diese nassen Kleider rief in mir eine solch mentale Beklemmung hervor, dass ich fast in einem Stadium der Psychose war. Ich fühlte, ich konnte so nicht weitermachen.

Margot, meine liebe Freundin, die die Kranken im Krankenhaus versorgte, intervenierte für mich bei unserem Lagerarzt Dr. Springer. Sie war in der Lage, mir eine andere Beschäftigung zu verschaffen. Wie erleichtert und dankbar war ich. Ich wurde nun einer Gruppe zugeteilt, die Löcher grub mit einem Presslufthammer und dann die schweren Steine mit Hilfe einer Schubkarre fortbewegte. Es war eine anstrengende Arbeit für ein achtzehn Jahre altes Mädchen, das 60 Pfund wog. Später wurde gesagt, dass die Löcher, die wir gruben, unsere Gräber werden.

Der Winter ging vorüber, der Frühling kam, und wir hörten Gerüchte, die unter anderen Kriegsgefangenen zirkulierten, die in unmittelbarer Nähe waren, und es schien, dass der Krieg zu einem Ende kam und die amerikanischen Streitkräfte nahe waren. Am 5. Mai 1945 öffneten sich die Tore unseres Lagers und herein stürmten amerikanische Soldaten, die unsere Befreiung bekannt gaben.

Sprachlos beobachteten wir ungläubig, wie unsere SS-Wachen flohen. Wir waren frei. Essen und Arzneimittel wurden durch die amerikanischen Soldaten verteilt, aber wir wurden gewarnt, nicht zu viel zu essen, da unsere ausgemergelten und ausgehungerten Körper dies nicht vertragen könnten. Ich rannte in die Sonne und pflückte Alpenblumen für unser Krankenhaus und nahm dann Kontakt mit den Amerikanern auf und bat sie darum, über das Amerikanische Rote Kreuz eine Botschaft an meine Schwester und meinen Bruder in den USA zu übermitteln und sie zu informieren, dass ich am Leben war. Ich war immer daran interessiert, Medizin zu studieren und nun arbeitete ich freiwillig im Krankenhaus mit, um die Kranken zu versorgen. Dr. Springer, Margot und ich taten dies die gesamte Zeit, in der das Lager offen war. Die ganze Zeit über wusste ich nichts über das Schicksal meiner Mutter, meiner Schwester und meines Schwagers. Dass mein Vater in Dachau gestorben war, wusste ich, da ich noch vor der Deportation benachrichtigt worden war. Ich war gespannt darauf, in meine Heimatstadt zurückzugehen, um zu sehen, ob meine Mutter zurückgekehrt war. Aber weder sie noch meine Schwester und mein Schwager waren es. Obwohl ich wusste, wie unwahrscheinlich die Möglichkeit ihres Überlebens war, hatte ich weiterhin die Hoffnung. Meine Mutter wurde in Ravensbrück ermordet. Meine Schwester und mein Schwager starben entweder in Litzmannstadt oder wurden woandershin transportiert. Ich habe es nie erfahren.

Die Reise war sehr schwierig unter den besonderen Bedingungen am Ende des Krieges. darüber hinaus hatte ich kein Geld. Margot und ich enterten Güterzüge nach Deutschland und nach mehreren Tagen kamen wir in meiner Heimatstadt an. Als wir langsam unseren Weg vom Bahnhof über die Ederbrücke in die Stadt machten, erkannten mich viele Leute. Wir gingen zum Bürgermeister der Stadt, der mir einen Brief für die Bank mitgab, wo wir noch einiges Geld hatten. Dort bekam ich etwas Geld. Der Bürgermeister bot mir Hilfe an, wenn ich in der Stadt bleiben wollte, aber ich akzeptierte dies nicht. Ich leitete jedoch den Verkauf unseres Hauses und eines Stückes Land in die Wege. Dann ging ich zu unseren alten Freunden, der Familie Volke. Zuerst starrten sie mich ungläubig an. Dann sagte Frau Volke: „Jesus Maria, Kugelmanns Bertelchen ist hier. Philip, Irmchen, Paulchen kommt und seht ein Wunder.“ Philip war der Vorname von Herrn Volke und Irmgard und Paula waren die Töchter, mit denen ich in den vergangenen frühen Jahren gespielt hatte. Sie umarmten mich und drängten mich, alles zu erzählen, was passiert war. Dafür erzählten sie mir dann, wie man meine Eltern eingesperrt und weggebracht hatte und dass nur wenige Tage zuvor mein Bruder Max, nun amerikanischer Soldat, der bei den Befreiungsstreitkräften Eisenhowers war, zu unserem Haus gekommen war, das Gewehr quer über die Brust hängend und alle, die ihm zuhören wollten, befragte, wie sie es hatten erlauben können, dass meine Eltern ermordet wurden. Mein Bruder suchte nach mir, aber er kehrte bald in die Vereinigten Staaten zurück. So sah ich ihn nicht, bevor ich selbst im Jahr 1946 in die USA kam.

Max Kugelmann als Soldat

Von meiner Heimatstadt ging ich nach Hamburg, um etwas über das Schicksal meiner Schwester, meines Schwagers und anderer Verwandten zu erfahren. Ein Onkel, der älteste Bruder meiner Mutter, Levi Plaut und seine Frau Ida, hatten Theresienstadt überlebt, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Zwei von meines Vaters Verwandten, die in Deutschland geblieben waren, waren in Konzentrationslagern gestorben. Es waren Robert und Selma Kugelmann. Beide waren unverheiratet und lebten in Mönchengladbach. Andere, die von meiner Mutters Seite kamen, waren ihre Schwester Selma Nathan, deren zwei Söhne Arthur und Man-fred, eine Tochter Gertie, deren Ehemann Arthur Nathan und zwei kleine Töchter, Leni und Ruth. Der Schwager meiner Mutter und seine Familie, die in Bebra lebten, Joseph Abraham, sein Sohn Leopold, seine Schwester Herta, ihr Ehemann Moritz Moses und ihre zwei kleinen Kinder, ein Junge und ein Mädchen, kamen ebenfalls um. Es gab einen Neffen meiner Mutter, Manfred Plaut, aus Merzhausen, der von Hamburg deportiert wurde zusammen mit seiner Frau und einem kleinen Kind.

Und da waren noch verschiedene Cousinen von meinen beiden Eltern, von denen niemand überlebte. All dies erfuhr ich von meinem Onkel Levi, als ich in Hamburg ankam. Es waren in der Tat harte und unerbittliche Neuigkeiten.

Während all dieser Jahre der schweren Prüfung hatte ich in meinem Gedächtnis die Adressen meines Bruders und meiner Schwester in New York behalten. Obwohl beide umgezogen und verheiratet waren, fand das Amerikanische Rote Kreuz sie. Sofort als sie erfuhren, dass ich überlebt hatte, begannen sie, die Einwanderungsformalitäten in die Wege zu leiten für meine Einwanderung in die Vereinigten Staaten. Es dauerte noch ein Jahr, bis ich gehen konnte. Ich erwähnte vorher, dass der Bürgermeister meiner Heimatstadt mir angeboten hatte, mir zu helfen in jeder ihm möglichen Form, und dass er mich bedrängt hatte, zu bleiben und meine verlorene Ausbildung zu beenden. Wie sollte ich dieses Angebot werten? Ich war meiner Eltern, meiner Jugend und ebenso meiner Menschlichkeit beraubt, ich konnte nicht warten, bis ich in der Lage war, diese schrecklichen Erinnerungen hinter mir zu lassen. Im Juni 1946 verließ ich Hamburg auf einem der vielen Schiffe, die Flüchtlinge und Überlebende transportierten. Am 18. Juni kamen wir im New Yorker Hafen an. Als ich die Freiheitsstatue sah, dieses Zeichen der Freiheit, liefen Tränen über mein Gesicht. Mein neues Leben konnte beginnen.

© Clemens und Dagmar Lohmann (für die Übersetzung)